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Mehr als Lesekompetenz? Wie sich das Verstehen mehrerer Texte zu klassischer Lesekompetenz verhält

Durch den Fortschritt der Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten bietet das Internet mittlerweile eine Antwort zu fast jedem Thema. Bei einer Internetsuche wird man mit immer mehr Beiträgen aus den unterschiedlichsten Perspektiven konfrontiert. Die Fähigkeit, diese Vielzahl an Informationen sinnvoll zusammenzuführen und zu bewerten, gewinnt deshalb zunehmend an Bedeutung. Doch gehört dabei mehr dazu, als einfach nur die einzelnen Texte zu verstehen?

Wir haben untersucht, wie die Fähigkeit, mehrere Texte zu einem Thema zu verstehen, mit "klassischer" Lesekompetenz, also dem Erfassen einzelner Texte, zusammenhängt. Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese Fähigkeiten zwar ähnlich sind, es sich aber trotzdem um deutlich trennbare Kompetenzen handelt.

Laptop mit Zeitung ©Bild von USA-Reiseblogger auf Pixabay
Hintergrund und Fragestellungen der Studie

Lesekompetenz ist seit PISA ein vielbeachtetes Thema. Die Förderung der Lesekompetenz wird seit dem PISA-Schock in deutschen Schulen groß geschrieben. Texte gut verstehen zu können, ist sowohl aus dem Alltag unserer Gesellschaft als auch aus dem Alltag von Schülerinnen und Schüler (SuS) sowie Studierenden nicht wegzudenken.

Insbesondere Studierende sind jedoch auch oft mit der Situation konfrontiert, für eine Prüfung, ein Referat oder eine Hausarbeit nicht nur mit einem, sondern gleich mit mehreren Texten arbeiten zu müssen. Dann geht es nicht nur darum, einen einzelnen Text zu lesen und zu verstehen, sondern verschiedene Texte aus unterschiedlichen Quellen zu vergleichen und zusammenzuführen. Das bringt zusätzliche Herausforderungen mit sich, vor allem dann, wenn man auf Informationen trifft, die sich widersprechen. Dann sollte man als Leser:in in der Lage sein, die Texte sinnvoll zueinander in Beziehung zu setzen und auch die Quelleninformation zu beachten.

Diese Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie sich die Fähigkeit, einzelne Texte zu verstehen (klassische Lesekompetenz) zu der Fähigkeit, mehrere Texte zu einem Thema zu verstehen (Textverstehen mehrerer Dokumente) verhält. Denkbar sind hier mehrere Alternativen:

  1. Das Textverstehen mehrerer Dokumente könnte im Wesentlichen dasselbe wie klassische Lesekompetenz sein, nur schwieriger.
  2. Das Textverstehen mehrerer Dokumente könnte Lesekompetenz plus eine zusätzliche Fähigkeit (z.B. Vergleichsfähigkeit) sein.
  3. Bei dem Textverstehen mehrerer Dokumente könnte es sich um eine andere Kompetenz handeln, die lediglich mit klassischer Lesekompetenz verwandt ist.
Zusätzlich zu dieser Frage haben wir untersucht, wie diese beiden Kompetenzen mit Leistungen in der Schule und im Studium zusammenhängen.


Methodik

Es wurden Daten von 501 Studierenden ausgewertet. Diese bearbeiteten zwei computerbasierte Tests: Bei dem Test zur klassischen Lesekompetenz sollten einzelne Texte zu verschiedenen Themen gelesen und Fragen dazu beantwortet werden. Dabei werden Fähigkeiten erfasst wie z.B. das Finden von Detailinformationen, das Ziehen textbasierter Schlussfolgerungen und die Beurteilung und Reflektion von Aussagen im Text. Der Test zum Textverstehen mehrerer Dokumente umfasst mehrere "Einheiten", die zu einem Thema je zwei oder drei Texte beinhalten, deren Inhalte sich zwar zum Großteil wiederholen und ergänzen, sich aber auch im Detail widersprechen. Die Aufgaben messen, wie gut Studierende die verschiedenen Informationen vergleichen und zusammenführen können und ob sie auch die Quelleninformationen beachten. Eine korrekte Lösung der Aufgaben in diesem Test ist nur möglich, wenn mehrere Texte herangezogen werden.

Die Studierenden wurden außerdem zu ihrer Abiturnote und ihrem Studienlevel (Bachelor/Master/anderes) befragt. Bei Masterstudierenden wurde außerdem die Bachelorabschlussnote und die voraussichtliche Masterabschlussnote erhoben.


Ergebnisse

Die Auswertung zeigt, dass es sich bei der klassischen Lesekompetenz und dem Textverstehen mehrerer Dokumente um zwei miteinander verwandte, aber trotzdem deutlich voneinander trennbare Kompetenzen handelt. Das bedeutet, dass sie unterschiedliche geistige Fähigkeiten erfordern. Dementsprechend gibt es Studierende, die z.B. besser einzelne Texte verstehen als mehrere Texte zu einem Thema, aber auch umgekehrt. Der hohe Zusammenhang der beiden Kompetenzen lässt sich vermutlich auf gemeinsame zugrundeliegende Fähigkeiten zurückführen, wie das Entschlüsseln von Wörtern und Sätzen oder auch die Intelligenz. Unsere Studie kann darüber jedoch keine Aussage machen.

Beide Kompetenzen hängen außerdem eng mit den Schul- und Studiumsleistungen sowie mit dem Studienlevel zusammen. Die Zusammenhänge dieser Variablen mit dem Textverstehen mehrerer Dokumente bleiben erhalten, auch wenn die Lesekompetenz kontrolliert wird. Dies bedeutet, dass sich die Zusammenhänge von Schul- und Studiumsleistungen sowie Studienlevel mit dem Textverstehen mehrerer Dokumente nicht (vollständig) auf die klassische Lesekompetenz zurückführen lässt.


Relevanz der Ergebnisse

Wie anfangs erwähnt, haben sich im Zuge der Digitalisierung das Lesen und die damit einhergehenden Anforderungen stark geändert. Über Suchmaschinen wie Google oder Bing wird man regelrecht mit Informationen aus unterschiedlichsten Quellen und Perspektiven überflutet. Die Fähigkeit, mehrere Texte zu einem Thema vergleichen, zusammenzuführen und bewerten zu können wird immer wichtiger – nicht nur im Bereich Schule und Studium, sondern generell, wenn man sich zu einem Thema informieren will. Diese Arbeit zeigt, dass diese Fähigkeit nicht nur klassische Lesekompetenz auf höherem Niveau oder gemeinsam mit einer zusätzlichen Fähigkeit erfordert, sondern als eine Kompetenz für sich gesehen werden muss und sowohl bei SuS als auch bei Studierenden gefördert werden sollte.


Die wissenschaftliche Publikation

Mahlow, N., Hahnel, C., Kroehne, U., Artelt, C., Goldhammer, F., & Schoor, C. (2020). More than (single) text comprehension? On university students' understanding of multiple documents. Frontiers in Psychology, 11, 562450. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2020.562450 (Open Access)


Das Projekt

Die Studie ist entstanden im Rahmen des Projekts MultiTex, das vom BMBF gefördert wurde.